Kurz vor meinem 50sten und mit einer Lottoscheinmetapher im Kopf entstand die Idee: 6 unterschiedlichste Dinge vorzustellen, die für mich in den vergangenen 49 Jahren wichtig waren oder sind (von Orten über Kunst bis Gegenstände). Mehr zur Idee hier.

6 Bücher aus 50 Jahren, plus SUPERZAHL. Uff… 60 wären leichter. Aber los…:

EINS: „Die Jungens von Burg Schreckenstein“. Die habe ich so ab 9 oder 10 geliebt. Jungens – mit „s“ hinten dran. Die 50er / 60er Jahre waren nicht so weit weg und sind auch in den Büchern noch spürbar – wenn auch schon die neue Zeit durchschimmert. So fiel irgendwann auch das „s“ weg.
Worum ging es? Kinder einer Internatsschule, die frech sind, die eigen sind, nicht nur folgsam, brav und fleißig, Lehrer, die etwas zu sagen haben und als Action im Buch fast schon harmlose, immer keusche Streiche und Abenteuer.

Es ging in den Geschichten immer auch um Ehrlichkeit, Verantwortung und Kameradschaft. Alles „Tugenden“, die in der Nazizeit gern und oft für alles mögliche herhalten mussten und die der Autor (geboren 1921) sicher erlebt hat. Hassencamp münzt diese Tugenden in seinen Büchern aber zu Freundschaft und Gemeinschaft und Vertrauen um – was nun wieder Eigenschaften sind, bei denen Freiheit und Offenheit geradezu lebenswichtig sind. Und so lasen die Bücher sich damals.

Ich wollte damals sogar in meiner Schule einführen, dass freiwillig niemand von anderen abschreibt und die Lehrer uns darin vertrauen und während der Klassenarbeit den Raum verlassen. Einfach, weil man auf Schreckenstein sagte, die eigene Leistung sei ermogelt nichts wert… Die Idee scheiterte nicht nur an den Klassenkameraden.
Da wusste ich aber auch noch nicht, dass es im deutschen Schulsystem (bis heute) genügt, auf den Punkt lernen, dann zu vergessen, nachzuplappern und auswendig zu lernen, um hernach gute Noten zu bekommen. Und dass die bequeme Lüge eben oft das gleiche Ergebnis bringt. Man darf danach dann nur nicht mehr dran denken. Der Gedanke aber, dass Literatur Handlungsanweisungen fürs Leben bereithält, blieb von damals hängen.

ZWEI: Vom Internat ging es als Kind der 1980er direkt in die Stephen King Phase: ES, Friedhof der Kuscheltiere und vor allem Brennen muss Salem – und fast alles, was noch kam, auch die Science Fiction Bücher wie Todesmarsch oder Running Man.
Bei der Lektüre war ich oft gezwungen, nachts das Licht am Bett anzulassen oder zumindest so lang zu lesen, bis alles gut endete.
Kings Bücher verbinde ich mit der gemusterten Frotteebettwäsche meines Kinderzimmers, der grünen Fanta Flasche neben dem Bett (ja, ich hatte viel Karies!) und langen, leeren Sonntagnachmittagen, die mit King Sinn bekamen – bevor ab 17.50 Uhr Ein Colt für alle Fälle begann und irgendwann Freundinnen ins Spiel kamen.
Als dann die Verfilmungen entstanden und durch die Bank (bis auf Shining und Stand by me) eine Enttäuschung waren, verstand ich zum ersten Mal, dass auch das tollste Buch als Film nicht funktionieren muss. Überhaupt, dass die scheinbar gefällige Kunstform Film, die ja alles für den Konsum und das Gefühl mitliefert, höchstens über zwei Ecken mit Büchern verwandt ist.

Stephen King halten viele immer noch für einen Unterhaltungsautor oder Horrorschriftsteller. Seine Büchern sind jedoch voller großer Themen und Anspielungen: Trauer, Melancholie, Verlust, Depression, Midlife-Jugenderinnerungen und Kleinstadtwelten, die über Amerika genau so viel erzählen wie die Bücher von Jonathan Franzen oder Philip Roth.

DREI: Mit 17 oder 18 kam erst eine Hermann Hesse und dann, mit vielleicht 20, eine Paul Auster Phase. Beide Autoren animierten mich, selbst zu schreiben. Tagebuch schreibe ich zwar seit ich 11 bin, aber sich etwas auszudenken, eine Geschichte zu erfinden, das schien mir lange so fern, wie der Wunsch, als Navajo Medizinmann zu leben oder wie Larry Bird oder Michael Jordan Basektball zu spielen. Aber mal ein Gedicht oder einen Dialog in einer kurzen Szene zu schreiben, dazu wurde ich durch Austers Bücher ermutigt. Das war dann zwar fast alles Mist, aber darum ging es nicht. Seitdem trage ich immer ein Notizbuch bei mir.

Paul Austers Meisterwerke sind für mich Leviathan und Moon Palace.
Leviathan verbinde ich bis heute mit meinem ersten Zimmer in Berlin Schöneberg mit Kachelofen, mit einem unfassbar kalten Winter und Erinnerungen an eine Reise in die USA mit meinem besten Freund einige Monate zuvor – auf Autofahren dort, einen angefahren Hund, den wir erschiessen mussten, auf Städte im Nirgendwo und New York New York – vom Buch in meine Erinnerung und zurück nach 1995 – während ich auf meinem bevorzugten Leseplatz auf dem Futonbett liege oder auf einem unbequemen Caféhausstuhl im Obst&Gemüse, Oranienburger Straße, hocke.

Moonpalace dagegen ist Vor-Ort Lektüre geworden, fast schon eine Spiegelung des Romans im Reallife: Gekauft in NY 1996, signiert von Auster auf einer Lesung im Washington Square Park und dann gelesen auf meinem mehrmonatigen VW Bulli Trip zur Westküste – durch alle US Klischees und Fantasien und Freakwelten, die man sich denken kann: sternenstrahlende Prärienächte, Naturwunder aller Art, Motorradtreffen, Hippiekommunen und Indianerreservate, riesige Malls, Einsamkeit, Zweisamkeit, Gemeinschaft. Einer Reise wie die von Marco Stanley Fogg durch die Städte, den weiten Westen, durch Bücher und Zufälle hinein in sein Leben, das für mich nach meiner Reise auch eine andere Wendung nahm. Mich überzeugte, im Schreiben Glück zu finden – völlig unabhängig davon, ob es je jemand lesen wird. Und so ist es immer noch.

VIER: Zwei schmale Bändchen von Michael Ondaatje fallen mir immer ein, wenn es um bleibende Lektüreeindrücke geht. Buddy Boldens Blues und The collected works of Billy the Kid. Ondaatje kennen alle nur als Autor von Der Englische Patient – seine frühesten fragmentarischen, eigenartig collagierten, schmalen Bücher sind ganz anders toll.

Ich weiß nicht mehr, ob ich meinem besten Freund oder er mir eines der beiden schenkte. Aber wegen der Gespräche mit ihm und unserer ungelenken Versuche, diese Bücher zu verstehen oder zumindest zu verstehen, was sie mit uns machen, stehen sie für mich für die Kraft der Literatur, Menschen zusammen und zum Nachdenken zu bringen. Um von einem Text angestachelt sich gegenseitig zu befeuern mit Ideen – wie Jazzmusiker in einem Konzert mit ihren Soli, noch eine und noch eine Assoziation und Idee anfügen.

Ich weiß gar nicht mehr, was genau in den Büchern passiert (so geht es mir mit den meisten Romanen allerdings), aber ich spüre noch die Gespräche bei viel Bier über sie und was sie mit dem Leben, unserem Leben zu tun hatten und haben, mit Liebe, Lust, Vergänglichkeit, Freiheit und Tod. Und ich lernte, wie Sprache auch ohne nacherzähltaugliche Geschichte, in der schon ihr Drehbuch steckt, Kraft und Tiefgang erzeugen kann. Durch Worte eine Welt erschafft, die nicht auf Handlung, sondern auf Wahrnehmung basiert. Wie ein Gedicht, das den Leser immer wieder nur auf sich selbst zurückwirft und ihn in die Welt hineinstellt, statt ihn wie ein unterhaltsamer, spannender Krimi aus ihr herauszunehmen.
Wenn ich genau wissen will, wo ich gerade, wer ich gerade bin, lese ich Ondaatje. Oder W.G. Sebald. Oder Knausgard. Oder Gedichte.

FÜNF: Während einer zweischneidigen Beziehung in Berlin, wohnhaft in einer WG mit drei Frauen, und kurz vor einer Entscheidung, die sich anfühlte wie „für den Rest des Lebens“, stieß ich auf James Salters Buch Lichtjahre. Eine Ehegeschichte (wieder USA, ich bin da eindeutig befangen, was den westlichen Blick und anglo-europäischen Kulturraum und auch die Affinität zu Middleclass Geschichten angeht!), die frühen 60er und 70er Jahre. Klingt erstmal nicht aufregend. Und außer normales Leben passiert auch nicht viel. Oder sehr viel.
Die Prägnanz der Sprache, die Nüchternheit, die erst Glanz und Glamour und viel shiny Oberfläche schildert, bald Sexpraktiken und Verrat und tiefstes Glück und Trauer, Lügen und Schmerz – das hat mich damals erst umgehauen und dann geradezu verrückt gemacht. Wie kann jemand so schreiben?
Habe dann Anfang der Nullerjahre innerhalb von ein paar Monaten alles gelesen, was von Salter veröffentlicht war – und fand diesen Sound, dieses Gefühl sowohl in der Bergsteigergeschichte Solo Faces, in den Kurzgeschichten, in seiner Autobiografie Burning the Days und zehn Jahres später in seinem allerletzten Roman, All that is von 2013, den er mit über 85 kurz vor seinem Tod schrieb – und der genauso scheißgut ist, wie alles andere von ihm. Beängstigend.

Lichtjahre jedenfalls trieb mich wochenlang um. Wenn alles Schöne irgendwann stirbt, wenn das bloße Vergehen der Zeit Familie und Liebe zerstört, was soll man dann tun – stattdessen tun? Etwa nicht lieben. Nicht weitermachen? Die Figuren im Buch haben Angst vor dem Abschied von der eigenen Jugend – und machen aber weiter, verlieren Nähe und Glück, bis sie nur noch die Mauern ihrer Häuser und Apartments und Erinnerungen haben. Heute wohl nicht seltsam, dass mich das kurz vor meinem 30sten Geburtstag anrührte.

Ich war mit dem Studium fertig, stand vor einem Leben als tüchtiger Erwachsener und in einer gerade beginnenden Beziehung, die von Anfang an kein Glück, aber zumindest Gemeinsamkeit versprach. Ich war noch eher jung, verstand aber genug, um berührt zu werden. Heute mit fast 50 weiß ich aber wohl erst, was Salter meinte als er über die Hauptfigur kurz vor ihrem Tod schrieb: „Ihr Leben war wie eine einzige schöne Stunde.“ Die Zeit rast und jeder erlebte Moment, wird mit seinem Verlust bezahlt. Aber deswegen zählt ja jeder Moment, mit denen, die man liebt.

SECHS: Bis heute ergreift mich The Sheltering Sky von Paul Bowles auf seltsame Weise – und das, obwohl es auch das Lieblingsbuch einer Person ist, die ich schrecklich finde. Etwas, dass mich immer verunsichert hat, wenn mir unangenehme, ja unerträgliche Menschen ein Buch toll finden, das mir auch etwas bedeutet.
Der Roman spielt in Marokko, schwelgt aber nicht im Orientalismus. Er hat stattdessen einen prae-post-kolonialen Blick auf Marokko, ganz ohne westliche Arroganz oder Wehmut. Hier treffen Westler und Nordafrikaner als Menschen aufeinander. Trotz des Alters des Romans (1949 publiziert), spricht es für die Klugheit, Offenheit und Klarheit von Bowles, dass darin kein Gefälle beim Blick auf weiße und nicht-weiße Menschen und ihre Kultur zu spüren ist. Eher lesen wir von selbstbewussten Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft unterschiedliche Entscheidungen treffen. Getrieben von dem, was sie erstreben oder wovor sie davonlaufen, wem sie gehorchen oder gegen was sie rebellieren. Und das Bild von dem schützenden Himmel, hinter dem der kalte Weltraum wartet, prägte sich mir ein.

Kitschiger ist die Filmfassung geraten, in der der edle, wilde Berber mit den tollen Augen am Ende die schöne weiße Frau in eine King-Kong artigen Beziehung zieht. Wie bei Salter wird auf unerbittliche Art von Beziehung und Tod erzählt, von unerfüllten Wünschen und Träumen in Bewegung. In mir löste das Lesen damals ein Ziehen im Bauch aus, das als Erinnerung bis heute nachhallt, sicher 20 Jahre später. Eine unlösbarer Mischung aus Fern- und Heimweh, die mich immer begleitete und in diesem Buch kondensierte. Ich muss nur den Umschlag im Regal sehen und das Ziehen ist wieder ein bisschen da. „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“, sagte der gute Nietzsche.

SUPERZAHL: „Alles Licht, das wir nicht sehen“ von Anthony Doerr ist die Superzahl, weil es für etwas steht, das bei der Lektüre der ersten 6 Zahlen noch nicht zu meinem Leben gehörte. Eigene Kinder. Eine eigene Familie. Habe (ohne es zu merken vermutlich) viele Familiengeschichten seitdem anders gelesen. Hatte Vaterrollen anders verstanden, oder missverständen und vielleicht überhaupt erst verstanden.
Würde ich beispielsweise heute nochmal „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen lesen, wäre das eine andere Geschichte. Aufs Vatersein bereiten einen auch 100 Romane oder Familienfilme nicht vor.

Doerrs Buch ist gar kein Familienroman und mir doch für immer für „Vater&Kind“ in Erinnerung. Was weniger am Inhalt, sondern eher an dem Augenblick liegt, als ich das Buch schloß. Sommer 2015, Italien…

Zunächst erzählt Doerr über 530 Seiten von einem Mädchen, das ohne Vater, im Haus des exzentrischen Onkels und dessen Haushälterin die Besatzung durch die Nazis zu überstehen versucht. Und erzählt vom naturtalentierten Radio-Techniker Werner, Waise aus dem Ruhrgebiet, dann Napola-Eliteschüler, mit maximaler Anpassungsfähigkeit und Gefallsucht ausgestattet, der am Ende zwangsrekrutiert wird für die Wehrmacht und Piratensender der Partisanen aufspürt. Die beiden Figuren näherns sich ohne von einander zu wissen allmählich an und kommen sich am Ende sehr nah.

In zwei Epilogen wird die Vergangenheit bis in die Gegenwart verlängert. Die Gegenwart, das war dann auch mein Moment in der Toskana, der Augenblick, als ich aufschaute, dabei noch das Bild im Kopf, wie die alte Frau (das Mädchen von damals) durch Paris davongeht. Gleichzeitig stand meine Tochter, gerade vier Jahre alt, vor mir im Sonnenlicht, lächelnd, mit Sand vom Strand auf der Nase und noch nassen Haaren. Sie beobachte mich auf dieser Holzbank, wo ich die letzte Stunde gelesen hatte. Und das war der Moment. Ein Augenblick augenblicklich dabei, sich in der Zeit aufzulösen. Mir fiel ein, wie einen Tag zuvor mein Sohn plötzlich losgerobbt war und sich über den Steinboden in dem alten Bauernhof, in dem wir wohnten, auf Richtung Tür gemacht hatte.
So schufen die letzten Bildern der Geschichte vor meinem inneren Auge, der Anblick meiner lächlenden Kleinen und die Erinnerung, wie mein Sohn hinaus ins Leben wollte, einen gemeinsamen Moment. So sehr jetzt und hier und flüchtig und herrlich und zugleich traurig, dass mit die Tränen in den Augen stiegen. Ich weiß bis heute, wie meine Tochter sich anfühlte (aufgeheizt von der Sonne) und wonach ihre Haare rochen (einem Feldweg nach dem Regen) und wie ich mich fühlte: Am Leben. Im Leben. Angekommen.
Bücher können Türen öffnen, die man nie wieder zubekommt.

Weitere wichtige Bücher waren:

Richard Ford: Die Bascombe Romane Sportreporter, Unabhängigkeitstag, Die Lage des Landes, Let me be Frank
Atonement von Ian McEwan
Das indische Nachtstück von Antonio Tabucchi (ein so feines, kompaktes, kluges und tiefsinniges Buch)
Die Romane von Ralf Rothman, besonders Milch und Kohle
Richard McGuire: Hier – Graphic Novel fast ohne Text, die vom Leben und Sterben erzählt wie kein anderes Buch
Jahrestage von Uwe Johnson (gelesen Jahrhundertsommer 2003 in Paris, während drückender Tage und schlafloser Nächte)
Der Adler der 9. Legion (bei dem ich, weil so begeistert, erreichte, dass wir es als Schullektüre in der 8. Klasse lasen und das ich als Gutenachtgeschichte in freier Form meinen Kindern erzählt habe auf einer langen Reise)
Generation X (natürlich in all dem geballten Wutrant und einer Kulturtkritik, ganz ohne Internet, von der trotzdem vieles heute noch immer gilt)
Dos Passos USA Trilogie
Karl-Ove Knausgard: Kämpfen / Lieben / Träumen (auf knapp 3000 Seiten Einblick in ein fremdes Leben, dessen Gedanken über sich und Unfähigkeiten und seltsame Entscheidungen erstaunliche Gemeinsamkeiten aufwies und kluge Hilfe im profanen, normalen, unscheinbaren Leben bot)
Rainald Goetz grandioses Johann Holtrop, diese west-deutsche Win&Wahngeschichte
Denis Johnson Schon Tot
Ernst Augustin Raumlicht (mein erster deutscher Roman mit bleibenden Folgen)
Christoph Ransmeyer Die letzte Welt
Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer (ein Buch, das die Einfachheit feiert, den Alltag und den Blick auf die kleinen und kleinsten Dinge lenkt, die das Leben ausmachen – neben den wenigen großen Momenten)
Ralph Ellison Der Unsichtbare Mann.