NUMMER VIER
Kriegsrecht Polen
Attendorn im Sauerland, Dezember 1981. Bei Oma am Esstisch im Wohnzimmer, vermutlich auf einem vorweihnachtlichen Besuch. Hinter mir steht das große, schwere Radio im Eichenholzchassis auf einem Sideboard: Stereo-Lautsprecher und zwei Einstellrädern neben dem langen Fenster, wo ich die dicke rote Nadel hin und her über Städte und Ländernamen schicke. Orte, die von diesem Raum mit seinem, alten Sofa und den schweren Vorhängen, den Stichen und Landschaftsbildern sehr weit weg erscheinen fast wie nur ausgedachte Orte.

Das Radio eins der Wohnzimmer-Möbelstücke, wie der Schlafsessel davor, auf dem mein Opa, wenn er aus dem Schnapsladen der Familie im Erdgeschoss nach dem Mittagessen die Beine hochlegte, Musik hörte oder eine halbe Stunde schlief. Opa war aber 1981 schon ein paar Jahre tot, seine Esstisch-Regeln, Ellbogen am Körper und nicht auf dem Tisch stützen („Als wenn du ein Buch unter den Armen hast!“) galten noch immer. Und der Sessel stand auch noch da.

Wir also am Esstisch. In meine Erinnerung sind das meine Eltern und meine Oma. Wir essen von weißen Tellern mit Goldrand, Sauerbraten vielleicht. Dann kommen die Nachrichten. Der Ton scheint jetzt lauter aus dem Radio zu kommen: General Jaruirgendwas verkündet das Kriegsrecht. Bundeskanzler Schmidt erklärt…. Das Wort „Krieg“ löst am Tisch eine Sekundenstarre aus:
Ich wusste mit 10 nicht, was Kriegsrecht bedeutet und auch meine Eltern wussten es glaub ich nicht. Sie wussten aber, was Krieg ist. Ich konnte das spüren da am Tisch. Mein Vater war so alt wie ich 1981, als die Deutschen den Zweiten Weltkrieg begannen. Gegen Polen. Meine Oma, Frau eines Parteigenossen, SA Manns und Beamten, später Ostfront Soldat, konnte sich sicher noch genauer erinnern, wie mit Polen etwas begann, das die Familie bis hin zu mir prägen sollte. Polen= Krieg = Anfang einer Katastrophe und Schuld.

Ein Schreck jedenfalls eine plötzliche Aufmerksamkeit für den Augenblick, ohne Bewusstsein über die historische Bedeutsamkeit, nur eine Ahnung von „Geschichte“. Ich spürte da vielleicht zum ersten Mal, dass Dinge von außerhalb, jenseits von Familie, von Freunden und dem eigenen Zimmer Einfluss auf uns nehmen konnten. Erstmal nur auf die Gesichter und Gespräche und später auf die eigene Geschichte.

Ich weiß nicht, ob man mir versuchte zu erklären, was geschehen war, wie das alles mit den Streiks und Lech Walesa, Papst Johannes Paul II, Danzig, und Demokratie zusammenhing, mit der Sowjetunion, der Mauer und der Wahl von Ronald Reagan ein paar Wochen vorher. Ob meine Eltern es überhaupt wussten oder eben wie ich nur „Krieg“ hörten. Meine Oma hat vermutlich ihr bekanntes „Ach du liebes Bisschen!“ ausgerufen. Ich weiß auch nicht, ob die Meldung nach diesem ersten Schreck genauso verdaut wurde, wie der Braten und die Klöße oder bald von anderen beunruhigenden Meldungen abgelöst wurde, von denen es damals einige gab.

Heute sagen wir, was in Danzig begann am Ende zum 9. November 1989 geführt habe. Und vielleicht hab ich es deshalb in Erinnerung: Weil sich der Tag AN dem Tag und im Rückblick als historischer Moment zu erkennen gab. Davon erlebt man nicht viele.

 

Nummer FÜNF
11.9.2001
Seltsam, dass jetzt, wo ich das hier schreibe, dieser 11. September fast genau 20 Jahre her ist, und mit dem Abzug aus Afghanistan und der beschämenden, bitteren, den Westen für die nächsten 20 Jahre diskreditierenden Übernahme durch die Taliban in nicht mal einer Woche – endet dann auch die Nachzeit von NineEleven mit der nächsten Katastrophe.
Die Welt ist damals an 9/11 eine andere geworden. Aber leider ganz anders anders, als gedacht: Der Westen, die „freie Welt“ überhaupt die Idee einer offenen Gesellschaft und die Verlockungen von freiem Markt und freier Meinung hat nicht etwa erst die Taliban, dann Al Quaida, dann den Irak und den Rest der Bösen besiegt.
Der Westen wirkt heute längst nicht mehr so selbstsicher und verlockend wie vor 20 Jahren. Stattdessen Sinnkrise und Selbstbeschäftigung und innere Krisen. Es gab mit Trump und gibt mit Brexit und Putin und China, Orban oder Erdogan auch eine mächtige Gegenströmung zum liberal, frei, offen, kooperativ. Und was nach dem 11. September 2001 als „gerechter Krieg“ (falls es so etwas gibt) gegen den Terror begann, wurde nur ein Jahr später durch die Lügen rund um den Irakkrieg, 100.000ende zivile Opfer und einem noch immer korrupten, gewalttätigen, kaputten Irak das Desaster Nummer 1 – plus Abu Graib, Guantanamo und die nie gelungene „Befreiung“ Afghanistans.

Am 11. September 2001 arbeitete ich meine letzten Monate im Bundestag. Es war mein erster Job nach der Uni gewesen, der meine erste Wohnung allein finanziert hatte. Büro Formanski war Unter den Linden 50, direkt neben der US Botschaft (bevor sie ans Brandenburger Tor zog). Während ich im Büro Radioeins hörte, wo man wie überall erst nur über einen „Flugunfall in New York“ berichtete, ein Sportflugzeug sollte in einen der Türme des World Trade Centers geflogen sein, während ich das hörte, arbeitete ich vermutlich Emails ab, textete an einer Rede für den Chef oder ähnlich Ödes. Irgendwann änderten sich die Meldungen im Radio in Richtung Passagierflugzeug. Und als die zweite Maschine im Tower einschlug, dauerte es nur noch Minuten bis die Meldung im Radio kam. Alle Abgeordnetenbüros im Gang hatten schon die Fernsehern angeschaltet, die sonst nur die Reden im Plenarsaal zeigten. Mitarbeiter sammelten sich im Flur. „Al Qaida“, sagte einer der Kollegen sofort. Hatte ich noch nie gehört. Und „Das wird die nächsten zehn Jahre prägen, alles verändern“, schob er nach. Ich fand das übertrieben. Was meine Ahnungslosigkeit nochmals belegte.
Deshalb ist der Kollege wohl auch später in einem Ministerium Fachreferent geworden und ich hab die Politik verlassen. Naja, mein Gebiet war außerdem Verkehr und Energie.

Rauchfahnen am WTC. Etwas krampfte sich zusammen in mir. Weil die Bilder zugleich so fremd und vertraut waren. Weil die „Zeichensprache“ der Bilder, der Symbolismus so eindeutig Richtung Katastrophenfilm aus Hollywood, Richtung Untergangs- und Vernichtungsfantasie von Roland Emmerich oder Godzilla ging. Aber das hier passierte. An einem Ort, den ich als West-Deutsches Kind der 70er und 80er verehrte: New York.

Ich hatte selbst noch zwei Jahre zuvor in den „Windows of the World“ ganz oben in einem der Türme gestanden. Und überhaupt die USA: Ich hatte dort fast ein Jahr gelebt, Freunde lebten dort, es gab noch immer Träume in mir, die mit diesem seltsamen, großen, wilden, kranken, verwirrenden, fremden und vertrauten Land zusammenhingen. Das sollte zerstört werden. Die Botschaft war klar – auch ohne analytisches Talent für internationale Beziehungen.

Ich gehe weg von den aufgeregten Gesprächen in mein Büro, schaue aus dem Fenster rüber zur US Botschaft. Nichts. Nur der eine Polizeiwagen mit einem übergewichtigen, vermutlich ehemaligen Vopo, der an seinem Auto lehnt. Ich habe noch kein Handy und telefoniere mit ein oder zwei Freunden, „Schalt mal Fernsehen an…“, gehe dann nochmals rüber zu den Kollegen. Inzwischen haben sich auch einige der Abgeordneten eingefunden. Entsetzen und Irritation und, ja auch Angst in vielen Gesichtern. Zurück in meinem Büro zeigt der Blick aus dem Fenster ein anderes Bild: ein Panzerwagen ist aufgefahren, sperrt die Zufahrt zur kleinen Straße. Hinten rollen drei große Polizeifahrzeuge zu einer Barriere zusammen. Absperrungen werden errichtet, Gitter aufgestellt, MPs vor die Brust geschnallt. Und dann stürzt der erste Turm ein und der Staub liegt seit dem auf allem, was „der Westen“ sein wollte und heute geworden ist.

Abends fuhr ich mit Freunden in die Freilichtbühne Wuhlheide, wo Radiohead sein einziges Deuschlandkonzert spielen sollte. Wir wussten nicht, ob das Konzert überhaupt stattfinden würde. Kein Social Media. Kein Handy. Aber lass uns hin, klar! Thom York kam auf die Bühne, schwieg. Sagte irgendwann, wir hätten ja vermutlich alle gehört, was passiert sei. Tatsächlich hatten es ein paar Leute im Publikum geschafft, von den letzten sechs Stunden, in denen der Alte Westen sein Ende fand, nichts mitzubekommen. Ignorance is a bliss. Bevor die Band dann loslegte nur noch ein Satz vom Sänger: Nichts, aber auch gar nichts gäbe es zu sagen, meinte er, gegen Trauer und Wut helfe nur der reine Rockrausch. Und er hat Recht behalten.

 

Nummer SECHS
Reichstagsverhüllung 1995
Im Grunde der mutige Anfang eines Deutschlands, das offenbar auch anders kann als bieder, barock oder bayrisch. Locker, freundlich, weltoffen – aber natürlich nicht ohne vorher elende Debatten darüber zu führen, ob „man das darf“. Kohl (noch einige Jahre Kanzler) und Schäuble waren strikt dagegen, am Ende setzte sich eine knappe Mehrheit hinter Rita Süssmuth dafür durch. Heute wollen es aber natürlich alle gut gefunden haben…

Im Rückblick scheint die Verhüllung der Beginn vom Mythos „Berlin ist nicht Deutschland“ gewesen zu sein. Hybris, Arroganz und Schaumschlägerei je näher das Millennium kam, folgten. Beim Blick in die frühen 90er mit Reichstagsverhüllung, Love Parade, Christopher Street Day, Wochenend-Raves, Kreuzberg, Prenzlberg, Castorfs Volksbühne und unzählbare Clubs und Bars könnte man denken: Berlin war halt immer schon angesagt und hip. Das war es aber so etwas von gar nicht!
Es war vielleicht schon „die aufregendste Stadt dieses Planeten“ (Dirk von Lotzow), aber das wusste noch kaum einer. Auch die Beteiligten erfreulicherweise nicht.
Erst zehn Jahre später, 2006 durch Heim-WM im Herren Fußball vollendet, fand diese Erkenntnis zu den Massen. Danach war Berlin heiß und hip und in aller Munde von Paris bis New York, so dass Hollywoodfilme wie Jason Bourne hier spielten und sich Stars irgendwo vor zugesprayten Hauseingängen filmen ließen und die Immobilienentwickler dann das Image melkten, bis wirklich nur noch ein Image übrig war.

Tägliche Weg zur Uni

Berlin 1995 war fantastisch, ohne dass es jemand außerhalb bemerkte und vielleicht noch wichtiger: ohne sich selbst so zu nennen. Eigentlich ohne irgendeine zusammenhängende Idee von sich. Berlin war eher eine Ansammlung toller Orte, eigenartigen Konzepte, billiger Mieten und allerlei Leutchen, die irgendwie was anderes suchten. Rund ums Tacheles in der Oranienburger Straße gab es noch keinen einzigen sanierten Altbau im Umkreis von zwei Kilometern. Berlin hatte keine städtische Imagekampagne, keine Prachtboulevards und Start-up Kultur, keine Forschungszentren und Hochschulableger aus dem Ausland, Privatunis und Innovation Hubs, kein Berghain, keine Hauptstadtstudios der Fernsehsehsender, kein Craft Bier, kein EasyJet, keine nennenswerte Restaurantkultur außer Döner und Currywurst und vietnamesischen Imbiss, keine Modelabels jenseits von Technoschlaghosen, keine Flagshipstores großer Marken oder Galerie Lafayette, keine Neukölln-Hipster, nichtmal die Prenzlauer Berg Hipster gab es schon, keine so genannten Berlin-Filme, kein Café Latte (der hieß noch Milchkaffee und kam in Schalen), kein Hauptbahnhof, kein Potsdamer Platz – nichts außer vielleicht dem Gefühl: Hier geht was. Und das war der Motor und Magnet zugleich.

In die Stadt kamen die Kreativen und Irren, die Macher und Freaks, die Tagelöhner und Tagediebe, die es braucht, um eine ganz andere Stimmung zu schaffen, als in jeder anderen Stadt Westeuropas. Die, die kamen, stellten erstaunt fest, man muss nicht immer jemanden fragen, wenn man was machen will, sondern kann einfach was machten: ein Festival, einen Film, ein Bar, ein Konzert, einen Club, eine Galerie, ein Theater, eine Literaturzeitschrift, ein Modelabel, eine Musikrichtung, sogar Karriere und Geld (ok, seltener) oder irgendwas mit Computern oder Medien (siehe The Billion Dollar Code auf Netflix). Viele Leute fielen auf die Schnauze, versumpften, gingen verloren in den Möglichkeiten und Nächten und Drogen. Und tauchten dann manchmal doch wieder auf. Als andere.

aus dem Archiv…

Als der Reichstag von Christo und Jean Claude 1995 für nur zwei Wochen verhüllt wurde, war die Stadt immer noch spottbillig (meine Wohnung Gotenstraße 400 Mark (heute vielleicht 200 Euro) für 75qm, mit WG Partner Arne pro Kopf also 200 Mark, Strom und Kohle für die Öfen inklusiv). Berlin war undeutsch chaotisch und vielleicht noch undeutscher: Berlin ließ die Leute machen. Fast alles. Nicht nur im Osten, wenn auch vor allem da.
Und so wurden diese zwei Wochen rund um den Reichstag, mit hunderttausenden Besuchern, einer Wiese auf der durchgehend Leute feierten, schliefen, tanzten, tranken zu einer Art Woodstock, zu einem bestimmenden, gemeinschaftsstiftenden Moment.
Die zwei Berlins: alte BRD mit Grünflächenamt, Ordnungsamt, Bauamt, Parkzonenbewirtschaftung auf der einen (West) und fast vollkommen ungeregelter, wilder Raum mit nicht funktionierender Verwaltung, Kopfsteinpflaster, Filmabenden im dritten Hinterhof, leerstehenden Wohnungen für Lesungen und Konzerte, ganzen Häusern, die keinem zu gehören schienen und Hochaussiedlungen am Rand auf der anderen Seite (Ost). In den zwei Wochen wurde diese beiden Teile in der Mitte zum ersten Mal nach dem Mauerfall wieder verbunden. In einem Moment aus Schönheit, dessen Sinn und Zweck die meisten erst verstanden, als sie davor standen: Es hatte nämlich keinen Sinn, außer dem, da zu sein, sich selbst zu genügen. Und darin steckt natürlich ein für uns Deutsche ungewohnter Blick auf sich und das Leben.

Wiese vor dem Reichstag

Meine Erinnerung: Freitag: Pelle Geburtstagsparty auf einem Boot, zweimal vorbei am verhüllten Reichstag an diesem Abend, immer in anderem licht schimmernd durch den silbrigen Stoff, der das Licht streute. Samstag: die erste B-Party von mir, Arne und Dirk, zu der Freunde aus ganz Deutschland anreisten, bis früh morgens feierten wir, dann lief eine größere Gruppe Party-Überlebende mit einer Kiste Bier rüber zum Reichstag: Sonnenaufgang auf der Wiese, tanzen, knutschen, trinken, gucken welche Farben möglich sind an den Türmen im Morgenlicht und unten, wo das Portal noch Schatten lag. irgendwann schlafen alle auf Decken und Jacken ein. Ich wache in dem Moment auf, als wir von japanischen Touristen fotografiert werden. Lächeln, Victory Zeichen. Wir nicken – als wenn wir da schon gewusst hätten. Ein Kunstwerk, ein Moment, gekommen, um danach für immer zu verschwinden. Außer aus der Erinnerung.