Was ist denn historisch? Wenn man dabei ist, wohl etwas, das man spürt, nicht versteht. Manchmal etwas, das dann groß und größer wird und Kraft entfaltet, Dinge in Bewegung bringt. Das Ganze kann aber auch schon fünf Jahre danach nur noch persönliche Erinnerung sein, nur eine Zeitungsmeldung unter Tausenden, oder einfach von der Zeit zermahlen werden – ohne „historisch“ geworden zu sein.

Ein Dilemma der Geschichtsschreibung ist ja, dass sie immer eine Geschichte der Zufallsfunde (Dinoknochen) und später der Sieger und Könige war. „Die Leute“, die Massen, der Plebs, die ohne Zeugnisse ihrer Existenz waren lang bloß eine Art Knochenmehl, aus dem die Könige und Berühmtheiten ihre Standbilder und Paläste formten. Manchmal aber, das hat sich beim Sieben des Knochnmehls etwas verklumpt, weil da jemand etwas Bleibendes erzählt oder aufgeschrieben hat.


Als Kind liebte ich Geschichte – sehr von der Frage angetrieben, wie wäre es für mich gewesen, da und dort zu leben, was hätte ich gemacht? Ich liebte Zeitmaschinen Geschichten, die Fernsehserie Es war einmal… oder Buck Rogers, zu den lebhaftesten Kinoerinnerungen gehört neben Bernhard & Bianca komischerweise Reise nach Indien, den ich mit meiner Mutter ansah. Oder Gandhi und Lawrence von Arabien. Das dicke Buch über Hilter bei uns im Regal (von Joachim Fest), der Soldaten-Tornister aus dem Ersten Weltkrieg, ein Schwert mit Hakenkreuz bei den Karnevalssachen… der Umgang mit Geschichte bei uns war, nun ja, locker?

Die 6aus49 Ereignisse sind historisch, ohne Zweifel. Zufällig habe ich sie miterlebt – vom Rand aus. Was mich weniger mit den handelnden Personen als vielmehr mit der Zeit oder dem Zeitgeist verknüpft, mit Nebenschauplätzen und ganz persönlichem Kleinklein.
Meist stand ich in dem Augenblick nur wie ein Depp im Geschehen. Heute ist oft nur ein Gefühl und ein Bild geblieben und die genauen Zusammenhänge müsste ich googeln. Und vieles erinnere ich mit Sicherheit auch falsch.

Ich liebe aber das Paradox der Geschichtsscheibung: Nämlich mit ganz vielen den gleichen Moment erlebt zu haben, also die vermeintlich gleichen Erinnerungen zu teilen – und dass dann über die Fernseh- oder Zeitungsbilder hinaus die meisten doch ihre ganz eigenen Erinnerungen mit dem Geschehn verknüpfen. Puzzelteile, die sich nie zu etwas Ganzem fügen werden.

NUMMER EINS Schmidt Sturz Oktober 1982
Wenn ich heute meinen Kindern aus den 70er und 80er Jahren erzähle, klingt es so, wie wenn meine Eltern von 1949 und den Ruinen sprachen: Weit weit weg. Kaum erklärbar manchmal. Die Wellt hatte damals andere Farben – nicht nur auf den Fotos! Die Farbe von Dortmund war Anfang der 80er: Grau. Oder pastell. Jedenfalls alles andere als knallig. Im Autoradio sprach man ganz anders auf allen Sendern. Für Kinder gab es eine halbe Stunde Fernsehprogramm am frühen Abend. Väter hatten Hobbyräume im Keller, rauchten im Auto, verteilten auch mal Backpfeifen, tranken nach Feierabend in Kneipen. Kitas, wenn es sie im Westen überhaupt gab, endeten um 1 Uhr, Mama war ja meist zu Hause. Und doch lebte ich 1982 – ohne es zu wissen – in einem unvorstellbar reichen und verglichen mit heute auch unvorstellbar langsamen, geordneten Land, das in vielen Dingen gern mehr wie Amerika gewesen wäre. Aber die Söhne und Töchter der Migranten wurden in der Schule „der Grieche“ oder „die Perserin“ genannrt und Lehrer machten rassistische Witze und alle – bis auf die Gemeinten, lachten. Die Neu-Lehrer waren eigentartig: Fuhren Ente oder R4, rauchten selbstgedrehte, liefen Marathon, waren bei den Grünen oder Kletterer, Cineasten, Wohnmobilisten – Freaks. Von denen ich jedenfalls am meisten lernte. Kinder aus armen Familien nannte man „Asis“ und Asi-Olli wurde auf dem Grundschulhof von den Viertklässlern mit Stecknadeln gefoltert – ohne Folgen für die Täter. Polaroid Sofortbilder waren 1980 das analoge Instagram und ich kannte zehn Telefonnummern auswendig. Kinder, könnt ihr Euch das BRD Paradies jetzt vorstellen?

Ich komme mit 11 von der Schule und der Fernseher läuft. Das hatte es noch nie bei uns gegeben. Auch nicht bei Fußball WMs. Fußsball war bei uns im Haus kein Thema.

Ich staunte immer, wenn Freunde Samstags zur Sportschau nach Hause wollten. Warum guckt das einer? Ich glaube, mein Vater, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kam und es nach dem Krieg – um mit Helge Schneider zu sprechen – „zu etwas GEEEEbracht“ hatte, wollte Abstand halten zu dem Milieu, das damals noch die Mehrheit beim Fußball stellte: Arbeiter, normale Leute. Eben nicht die Typen, die im Dortmunder Süden auf wohlabendes Bürgertum machten, sich leider meist mit neu-reichem Getue und Protzen genügten. Deshalb durfte ich auch nie zu „Sturm Hombruch“ in den Rennrad Verein: „Die haben nur dicke Beine und nix im Kopf“, sagte mein Vater.

Nun also Freitag, der 1. Oktober 1982, 14 Uhr 30 – Uhr der Fernseher läuft, meine Eltern davor. Zu sehen ist der Bundestag in Bonn und wie Männer in dunklen Anzügen aus Helmut Schmidt, Helmut Kohl machen. Die Partei meines Vaters übernahm die Macht in einer Zeit, als ich begann die Macht meines Vaters anzuzweifeln. Ich mochte den Schmidt vermutlich, weil er mich an die Loriot Zeichentrickfiguren erinnerte. Meine Eltern mochten Schmidt auch, obwohl die mitten in der roten Bastion Dortmund stolz nie SPD wählten. Und nun wurde Kohl der Kanzler, „Der Dicke“ der mich – wie jetzt meine eigenen Kinder Angela Merkel, „Mutti“- durch die gesamte Jugend begleitete.
Als Politikstudent in Bonn nahm mich Anfang der 90er mal ein Studienfreund auf eine CDU Wahlparty mit. Kohl kam auch und wir standen zwischen den vielen weißhaarigen Männern, die damals (wie heute) das Land regierten. Auch wenn es die Bezeichnung Bubble für einen in sich geschlossenen Wirklichkeitsraum noch nicht gab: das hier war eine.

Kohls Abwahl sechs weitere quälend immobile Jahre später, der Aufbruch von Rot/Grün 1998 wurden gewissermaßen zum Abschluss meiner Kindhei:  Als ich am Wahlabend am Spätkauf in Berlin Nachschub für unsere ausgelassene Wahlparty holte, dachte ich an den Oktober 1982 und an meinen Vater, an Radrennen, an sein Aufsteigerleben, und an die beiden Helmuts – und dass sich jetzt viel ändern würde. Dachte ich.

NUMMER ZWEI & DREI –
Flüchtlinge Prager Botschaft September und Mauerfall, 9. November 1989

Rückbank eines weißen Kleinwagen auf eine Schnellstraße bei Haifa, Israel, September 1989. Neben mir mein Gastbruder, in dessen Haus ich während der zweiwöchigen Austauschreise wohnte. Leider überhaupt nicht mein Typ, keine Gemeinsamkeiten, keine Vibes – weshalb ich lieber beim Charlie Parker begeisterten Aikido Fan Zemer auf dem Sofa oder bei der schönen Pianistin Michal auf dem Bettvorleger geschlafen hätte als bei diesem seltsamen Jungen, der nach Reinigungsmitteln roch und Bügelfalten in der Jeans hatte. Aber so gab es mehr über interkulturelle Verständigung zu lernen, hätte wohl ein Erwachsener gesagt.

Im Radio hörte ich, während wir am Hafen von Haifa entlangfuhren, die Worte „Germania“ und ein paar Zahlen auf Iwrit. Die Eltern unterhielten sich und übersetzten mir dann: „Da sind ein paar hundert Leute aus Ostdeutschland in die BRD Botschaft in Prag geflohen. Die ist jetzt geschlossen, weil da schon 1000 über den Zaun rüber sind.“ Aha. Wieder raus auf die Containerschiffe gucken. Nicht die Meldung machte mich sprachlos, sondern das Fehlen irgendeines Bezugs oder Gedankens meinerseits zu der Sache.
Die DDR war für mich ein Land wie San Remo. Aber ich war eben der „deutsche Junge“ im Auto. Der deutsche Junge, dem zu so einer wichtigen Sache nichts einfiel. Und das in Israel, in einem Land, wo Politikthemen als Smalltalk gelten.
Obwohl wir mit der Schule ein paar Jahre vor dem Israelbesuch in der DDR gewesen waren (man kam damals rum mit seiner Schulklasse!), Magdeburg oder Bukarest – das machte trotzdem keinen Unterschied für mich. Nette Leute da im Osten, die Jugendlichen genau wie wir auf der Jagd nach Musik, Klamotten einem Gefühl für sich. Magdeburg war aber, selbst verglichen mit Dortmund, nochmal eine ganz andere Liga an architektonischem Brutalismus.  „Heimatgefühle“, Wunsch nach Korrektur historischer Entwicklungen? Nö. Nicht bei mir.

Ich konnte zu den Prager Flüchtlingen, der DDR usw. bei dieser Autofahrt in Haifa nichts sagen. Daran erinnere ich mich. An die Unfähigkeit. Ignoranz Royale? Immerhin war ich 18. Naja, vielleicht auch einfach nur 18 und immerhin neugierig und nicht selbstgerecht. Und vielleicht erwuchs daraus auch etwas von der Unbefangenheit, man könnte sagen Naivität, die uns in Israel half. Nämlich nach den harten Themen und Besuchen an Gedenkstätten wie Yad Vasehm, der Betroffenheit und Stille, beim anschließenden Quatschen und dann doch wieder Feiern mit den Nachfahren der Holocaust Überlebenden. Wie in Magdeburg am Ende wieder nur Jugendliche mit mehr oder weniger klarem Verstand von sich und der Welt.

Und so erinnere ich mich heute zwar an diesen Moment im Auto im Haifa, an „Germania“, aber habe leider keine Ahnung mehr, wo ich war, als 2 Monate später die Mauer fiel.

Als am 3. Oktober 1990 Wiedervereinigung gefeiert wurde in Berlin, fuhren wir trotzdem hin. Wir schliefen bei meiner Schwester in Charlottenburg, standen abends vor dem Reichstag, latschen durchs Brandenburger Tor, soffen Bier am Alex. Und ich versuchte redlich, den Abend als historisch zu fühlen. Ich versuchte Jaaa! zu sagen zum Moment als Kohl und Brandt und alle anderen vor uns auf der Bühne standen, redeten, sangen, Mitternacht, Feuerwerk. Es war für uns Wessis wie bei Jim Knopf, als Kummerland untergeht und Lummerland sich aus dem Meer hebt. Aber es gelang mir einfach nicht Bedeutsamkeit oder den Hauch der Geschichte zu spüren. Und was auch immer das über mich aussagt: es stimmt. Am Ende erinnere ich mich daran, dass uns allen die Beine weh taten, weil es vom Kuhdamm zu Fuß bis zum Alex doch sehr weit ist.

FORTSETZUNG FOLGT…