Die Nacht hat 1000 Augen. Toller Noir Film mit Edward G. Robinson, aber doch nicht so gut wie der Titel. Wer blickt denn da mit tausend Augen? Meist wir selbst auf uns. Tragen einen Anzug mit Augen wie einst Freddy Mercury. Aber wie oft ist, was die Nacht an Exzess und Lust und Klarheit brachte, im Hellen betrachtet banal und leer? All die besoffenen Entscheidungen oder die bekiffen Erkenntnisse – am Morgen bleib nur ein Zettel mit unverständlichem Gebrabbel und Erinnerungen an ein Gefühl, nicht das Gefühl selbst.
In der Nacht ist unser Denken entweder wild und klar oder ganz abgeschaltet beim Tanz bis in den Morgen, da regiert uns das Unbewusste in Träumen oder es quälen To-Do Listen und Sorgen in der Schlaflosigkeit. Oder wir sind nicht allein in unserem Bett und finden für ein paar Stunden zusammen im Dunkeln Klarheit. Die meisten Nächte sind einfach nur nötig und scheinbar sinnlos und versinken ohne Erinnerung zwischen den Tagen.
Um zu spüren, was Angst ist, was richtiges Alleinsein bedeutet, wie es für die vielen zehntausend Jahre gewesen sein muss, bevor erst Feuer dann der Strom kam, dafür müssen wir raus in die Natur unter den Sternen oder an einem tosenden Meer oder auf einem Berg in Stille und Nacht sitzen und hören, ahnen, zittern und den 1000 Augen begegnen.
Ich habe die Nacht so geliebt wie genossen für sicher 25 Jahre. Und dann kamen meine Kinder. Ende dieses Lebens, Anfang eines neuen. Für etwas „Nachtleben“ stand ich eine Weile um 5 auf, lesen, schreiben, den Tag erfassen. Dann Programm abspulen. Und leider fast nie vor Mitternacht ins Bett. Mich hält bis heute abends eine seltsame Unruhe wach, als würde ich etwas verpassen – als würde ich mein Leben verpassen, wenn ich um 10 ins Bette gehe.
Die Nacht ist bis heute der Ort geblieben, wo ich näher dran bin. An mir, am Text, am kränkelnden Kind in meinem Arm, an meiner Frau oder den Gedanken um und über alles mögliche. Sechs + eine Erinnerung an Nächte, die bis heute etwas bedeuten.
Die ZAHL 1
BERGHÜTTE, Zillertal Ende der 90er
Weil die Diplomarbeit anstand, und weil Berlin mit seinen 1000 Verlockungen und den 1000 nächtlichen Augen und Ablenkungen für einen undisziplinierten Menschen wie mich die größtmögliche Herausforderung darstellte, und weil ich die Berge liebe und weil mein Vetter eine Hütte im Zillertal hatte, die 10 Mark am Tag kostete und fernab vom Dorf auf einem Berg stand – fuhr ich im Sommer 1998 mit dem Zug dorthin. Um zwei Wochen konzentriert nur zu Lesen und zu schreiben. Allein. Ohne Handy (hatte ich nicht). Ohne irgendwas und irgendwen. Im Rucksack nur 15 kg Papier, Bücher in zwei Taschen und Bergausrüstung.
Mein Diplomthema drehte sich um Religion in den USA – in ihrer politischen Form. Wie nutzen Politiker die alten Erzählungen für ihre Zwecke, – auch für politische Religionen wie den Kommunismus oder den Nationalsozialismus. „Was ist Religion“ wollte ich am Anfang und da auf der Hütte klären. Vermessen. Viel zu groß. Aber ich dachte wohl, „Aim high, and you won’t shoot your foot off“.
So manche Selbstüberzeugte hatte ja da in der Einsamkeit seine Begegnung mit Gott oder dem Teufel oder der Essenz des Seins. Moses mit einem brennenden Busch in der Wüste genauso wie Jesus in der Wüste nach 40 Tagen fasten und kurz vor seinem ersten Auftritt, wie Buddha unter einem Baum oder Mohammed auf einem Berg oder wie mancher in der Wüste von New Mexiko von Ufos entführt wurde. Der Mensch ist nicht gern allein, aber es scheint ihm gut zu tun, wenn er etwas schaffen will – oder vorhat, wahnsinnig zu werden. Auch wahnsinnig erfolgreich.
Ich hörte einmal auf dem Berg angekommen dann zwei Wochen viel Ö3 Radio im kleinen Batterieradio, um nicht mit mir selbst zu reden, machte aufwendig lange Einkaufswanderungen ins Tal, um nicht nur in der Hütte zu sitzen, erklomm die umliegenden Gipfel und las abends Romane. Die Hütte hatte kein Bad, nur einen Viehtrog vor der Tür, keinen Strom, nur Gaslampen und einen Holzofen zum Kochen und Heizen. Hätte ich ein Handy gehabt und schon flächendeckend Internet, Netflix, Mails, WhatsApp, Insta… ich wäre wohl nie fertig geworden. Ich hätte vermutlich nichtmal angefangen. Das gelang dann aber zu Glück.
Die Nächte allein auf einem Berg sind seltsam. Urängste steigen auf in der Dunkelheit und fast absoluten Stille. Was, wenn Tiere kommen (welche denn, fragte ich mich morgens im Hellen dann immer), was wenn „jemand“ kommt (warum? um Emil Durkheim Arbeit über Formen religiösen Lebens zu lesen?), was, wenn ich nicht einschlafen kann? Was mir immer gelang. Dennoch die Angst hervorgerufen durch die Abgeschiedenheit, der ich durch Schlaf eine Weile entkam.
Nach etwa zehn Tagen ereignete sich diese Nacht, die – wäre ich ein bisschen schlafloser, sendungsbewusster und irre – zu meiner Epiphania hätte werden können. Dann würde ich jetzt entweder auf einer Kiste an einer Straßenkreuzung stehen oder hätte eine Megakirche gegründet und wäre ein reicher Mann.
Den Tag hatte ich in der Hütte verbracht und geschrieben, während die ersten noch entfernten Donner durch Tal liefen. In den Rauchpausen ging ich auf dem Balkon mit Blick ins Tal. Die Blitze stießen auf die Gipfel wie Finger. Als es dämmerte, zogen Wolken ins Tal, die unter mit lagen, wie eine weiße Decke über das Dorf geworfen. Da schlug ein Blitz waagerecht über den Himmel, einige Kilometer lang. Als würde die Schale um unsere Erde zerbrechen und wir augenblicklich alle ins All gesaugt.
Dann folgte ein Donner, der für Sekunden alles erzittern ließ und durchs ganze Tal rollte. In den nächsten Minuten zogen die Wolken hoch und höher und hüllten bald die Hütte und mich darin ein. Alles war dunkel und vollkommen still. Wenn ich die Gaslaterne auf dem Balkon hochhob, reflektiere der Nebel nur ihr Licht zurück. Meine Stimme klang, als ob ich in einer Kiste läge. Ich konnte vor der Hütte stehend nichts sehen, machte ein paar Schritte hinaus auf die Wiese und hört nur das Rauschen in meinen Ohren und meinen Herzschlag. Ich drehte mich um und ging zurück als da ein Zischen und eine Stimme hinter mir war. Die Haare auf meinen Armen in im Nacken stellten sich auf. Ich drehte mich nicht um, ging hinein, verschloss Türen und Fenster, konzentrierte mich auf das Knistern des Lichts und rettete mich in Gedanken.
Es entstand in der Nacht eine Kurzgeschichte, die alles in sich trug, was ich so an falschen Entscheidungen, Trennungen, Illusionen und Lügen in den Monaten und Jahren zuvor angesammelt hatte. Kaum lesbar heute, voller Metaphern und doppelten Bedeutungen, Anweisungen und Heulsusereien. Zeugnis eines wirren Geistes, eines Suchenden, der aber so etwas gefunden hat. Wenn auch nur eine Form, noch nicht den passenden Inhalt. Zum Glück hörte ich in der Nacht keine Stimmen in meinem Kopf oder hatte gar eine Begegnung der dritten Art. Ich begegnete nur meinen eigenen Dämonen, stand an den Abgründen des Innern. Als es hell wurde, die Sonne hinter dem Gipfel links aufging, traf ich eine noch heute richtige Entscheidung und legte mich schlafen.
Die ZAHL 2
Café Schwarzsauer, Berin, div. Nächte
Wieviele Jahre von den bald 50 ich zusammengerechnet in irgendeiner Kneipe verbracht haben mag. Ein halbes Jahr dürfte es sicher gewesen sein. Begonnen mit 16, als es noch ein Kneipenviertel in Dortmund gab und als man als junger Mensch auch noch in Kneipen ging, statt nur zu Haus zu trinken. Wir waren jedes Wochenende im Treibhaus, in der Galerie, im Schaf und soffen Brinkhoffs oder hockten in den Freistunden im Grammophon neben der Schule. Ich habe in den folgenden Jahren zahllose welterklärende, wirre, witzige Gespräche an den Tresen auf drei Kontinenten geführt, dazu zahllose trübe, lüsterne, traurige, wirre, suchende und leere Blicke verteilt und erhalten. Die Nacht macht wach und wild. Der ungeplante Exzess, die Straße nach Süden. Die Debatten schienen Jahr für Jahr wilder und zugleich vergeblicher bis sinnlos zu werden. Aber sie schufen hunderte herrliche Abende.
In Berlin zu Becks im Delicous Doughnut oder Hackbarths oder bis in die früh im Schwarzen Café tief im Westen – oder eben, meist ganz am Ende, hinter dem Ende eigentlich, im Schwarzsauer auf der Kastanienallee. Da fand immer der letzte Versuch statt, sich einen Reim auf all das da draußen und hier drinnen zu machen. Heiser gesungene katalanische Straßensänger, Volksbühnenprominenz, Suff- und Laberköppe, kritzelnde Dichter und Erste Dates und allerlei Vor- und Nachglühleute saßen hier, ob um 11, 1 oder 4 Uhr oder wenn dann wirklich alle losmussten – und noch einen letzten nahmen.
Das Schwarzsauer bis heute der letzte verlässliche Ort eines schon mehrfach untergegangenen Prenzlauerbergs: vor der Wende nur eine graue Ecke, nach der Wende schnell wilde Meile und das Schwarzsauer erstes Haus am Platz. Nach Gentrifizierung und Verbürgerlichung der letzten 15 Jahre immer noch da. Zusammen mit dem „Lass und Freunde bleiben“ etwas weiter, hab ich nie einen Laden so sehr dafür geliebt, dass er es schafft, unmerklich die tagsüber gelingende Caféhausatmosphäre ab der Dämmerung in eine ebenso gelungene Barstimmung zu verschieben, eine solche Unruhe in einem zu schaffen und Erwartungen an die Nacht zu wecken, dass man sitzten bleibt. Oder geht und wieder kommt.
Die Nacht der 1000 Augen – hier gab es sie ganz wörtlich durch all die Leute und Leben, die im Laden saßen im Verlauf eines Abends und einer Nacht. Und all die Menschen, die vor dem großen Schaufenster auf dem Gehsteig vorbeiliefen, die man nie wiedersehen wird, nie treffen wird, es sei denn man steht kurz auf und lädt zu einem Drink ein oder wird eingeladen. Einen noch, komm, wird gleich hell.
Zahlen 3-6 + Superzahl folgen...