INTRO: Kurz vor meinem 50sten und mit einer Lottoscheinmetapher im Kopf entstand die Idee: 6 unterschiedlichste Dinge vorzustellen, die für mich in den vergangenen 49 Jahren wichtig waren. Alle Details hier.

Musik war früher wichtiger als heute. Damals sortierten sich ganze Cliquen und Untergruppen und Szenen entlang von musikalischen Linien. Gibt es heute sicher auch noch, aber mit ganz viel Fusion und Überschneidung und noch mehr „Kenn ich nicht.“ Sagt der alte Mann…
Kenn ich nicht, gab es für 70er/80er Musikfans fast nicht. Man kannte, was es gab, alles was bei Life Music in der Dortmunder Innenstadt im Plattenregal der Neuheiten stand, alles was Mal Sondocks Hitparade spielte, alles bei Formel Eins und für die Nebensektionen was in den Abendprogrammen im Radio lief – in seiner ganzen Breite von Yello bis Motörhead. Wer Musik mochte, hörte sie (erstmal noch) nicht nebenbei, während er am Handy Nachrichten schrieb. Intensivste Musikhörerlebnisse stammten vom zu Haus auf dem Teppich liegen und hören. Erst der Walkman macht dann das eigene Leben zum Film mit Soundtrack.

Musik hat bei mir Menschen sortiert: Ich konnte nicht mit jemandem zusammen sein, der Modern Talking hört, aber auch auf keinen Fall mit einer, die Reggae mag. Wer Wave hörte oder Punk, hatte eigentlich immer ältere Geschwister und damit einen frühgereiften Musikgeschmack, der mich verunsicherte. So jemand verfügte über eine Art Geheimwissen. Wer aber mit 16 schon Rock hörte oder Schlager cool fand, war zu sehr wie seine Eltern. Und wer mit Talk Talk oder Talking Heads nichts anfangen konnte, hatte auch später nur geringste Chancen, Musikgeschmack zu entwickeln. Das waren so meine zarten Erkenntnisse.

Wie bei 9/11 oder als die Berliner Mauer fiel, weiß ich genau, wo ich war, als ich eine bestimmte Platte zum ersten mal hörte: Stings Dream of the Blue Turtles, geliehen von Daggi, auf meinem braunen Teppich im Kinderzimmer, kühl war es, draußen aber Sonne, es sollte Königsberger Klopse geben. Dazu passt Meat is Murder von The Smiths, geliehen von einem Nachbarsjungen (mit älterem Bruder) und zum ersten Mal oben auf der DUAL Anlage meines Vaters gehört. Ich wusste sofort, das ist besonders, konnte aber mit Morrissey Stimme noch nichts anfangen. Nirvana, Smells Like Teen Spirit: Im Auto auf der Fahrt nach Hause nach einer Nachtschicht, Durchstraße Dortmund, Fahrtrichtung Höchsten – den dunkelgrünen Golf von Mutter angehalten, bis das Lied zu Ende war. Sprachlos. 5 Jahre später habe ich in Seattle gewohnt.

Vielleicht ist meine musikalische Beschränktheit/Faulheit/Arroganz heute auch bloss Überdruss. Hab alles, was ich brauche, könnte problemlos nie wieder neue Musik hören. Alterserscheinungen… Oder weil die aktuelle Musik unerträglich ist. Oder weil ich bei gelegentlichen Netz/Spotify/Zeitschriften Recherchen das Alherrengefühl dominiert: Alles schon besser gehört.
Vermutlich deswegen, und weil Musik einen macht, wenn man noch formbar ist – also so bis 25(?) – sind die Mehrzahl der Platten auf dieser 6aus49 plus Superzahl Liste im letzten Jahrhundert erschienen. Ich könnte aber sicher zwei Wochen lang jeden Tag 6 andere nennen, die auch wichtig waren oder sind…aber so ist Lotto.

 

EINS
Tocotronic-Pure Vernunft darf niemals siegen (2005)
Die erste Platte, drei Jungs mit Diskurs-Langhaarfrisur und Trainingsanzügen hatte ich 1996 bei WOM am Kuhdamm in Berlin in der Hand. Reingehören – zögern – was IST das? Durchhören, irgendwie besonders, aber nö…

Dennoch nie vergessen können, was ich da gehört hatte.10 Jahre dauerte es trotzdem: 2005 erschien Pure Vernunft darf niemals siegen. Zuvor hatten Tomte mit Hinter all diesen Fenstern meinen Widerstand gegen deutschen Rock/Pop gebrochen. Dieses Tocotronic Album brauchte auch keine Hilfe mehr von meinen frühinfizierten Freunden, die mir seit Jahren mit Blumfeld und Begemann in den Ohren lagen. Vom ersten bis zum letzten Song ein Treffer: Musikalisch, textlich, atmosphärisch. Unvergessen das Neujahrskonzert am 1. Januar 2005: Tocotronic spielt in der Volksbühne und Dirk von Lotzow heiser, verkatert und stimmwacklig am Anfang. Es wird ein unvergessenes Erlebnis für unsere von der Nacht noch lädierten Hirne und halb geöffneten Herzen and diesem ersten Tag des Jahres.

Seitdem gehören diese Platte und die Tocos so sehr zu meiner musikalischen Sternenkarte, als hätten sie schon immer da oben gefunkelt. Das „Sag Alles Ab“ T-Shirt habe ich seit Jahren immer an, wenn es drauf ankommt.
(Weitere Lieblinge Ja, Panik, Kante, Niels Frevert, Sophie Hunger, Peter Licht, Die Sterne, Gisbert zu Knyphausen)

ZWEI
Simple Minds – Once upon a time (1985)
Handgeschrieben hatte ich alle Texte damals geschenkt bekommen von meiner ersten, ja, Teenagefreundin. Sehr unschuldig wir beide. Ihr älterer Bruder war ein Simple Minds Fan, dadurch sie, dadurch wurde ich einer. Besonders „Whish you where here“ hob sie hervor. Die Botschaft kam an. Ich muss die Platte bis heute hunderte Male gehört haben, und es ist immer noch die einzige LP, von der ich alle Texte auswendig kenne. Es folgen tolle Konzerte, u.a. Westfalenhalle, Steilkurve mit 100erten Fans drauf, darunter wir, stürzt bei Hüpfen und zu Alive & Kicking ein. Kurze Unterbrechung des Konzers, dann geht es weiter… die wilden 80er, aber mal in echt.

Das Live in the City of Life Album war in heavy rotation auf meinem Plattenteller. ich erschloss mir die Vorläufer New Gold Dream und Sparkle in the Rain und malte das Simple Minds Logo mit goldenem Lackstift auf Schulhefte und Rucksäcke.
Aber als vier Jahre später das neue Album erschien, waren Jim Kerr und Kollegen für mich schon eine Weile vorbei. Die Jugend war damals offenbar genau so schnelllebig und flatterhaft wie heute. Und die Freundin gab es da auch nicht mehr.
Simple Minds ist in meiner Vita eine der wenigen Bands, die bei Gesprächen über Musik von 80er Zeitgenossen, die schon damals musikalisch viel sicherer reisten als ich, als auch von Mainstreamern zumindest immer ein Okay bekomme. „Okay, die waren gut.“ Meine zeitweiligen musikalischen Irrungen (ich sag nur Popper! – bis der Jazz kam), die nach Simple Minds eine Weile folgten, werden so wenigstens etwas aufgewogen. Danke Eva.

Die Platten 3-6 + SUPERZAHL im nächsten Teil…