PROLOG

Dieser Text ist 7 Jahre alt, da hatte ich selbst noch keine drei Kinder. Und ich habe in Berlin, der Hochburg der Neuen Eltern gelebt. Und trotzdem würde ich keinen einzigen Satz korrigieren. Im Gegenteil: die beschriebenen Eltern sind jetzt, auch hier in Dortmund in ihrer geringer auftretenden Zahl und nun, wo ich selbst Kinder habe, noch unerträglicher.

Es hat also, wie ich damals durchaus im Stillen befürchtete nichts mit dem Perspektivwechsel zu tun, den man durchmacht, der das Leben für immer und gänzlich verändert, wenn man Vater oder Mutter wird. Es hat vielmehr etwas damit zu tun, wer man ist, wenn man seine Kinder bekommt. Der ist man auch weiter, im Guten wie im Schlechten. These: Wer also auf locker und lässig und Sinnsuche machte in Berlin, kämpfte eigentich oft in sich gegen den Spießer, der er oder sie war – und dann wieder sein durfte „weil Kinder das brauchen.“ Oder wie die Ex-Raucher, Ex-Fleischfresser, Ex-Nicht-Kinderhaber und überhaupt Konvertiten dieser Welt, sich an ihr NEUES klammern, weil ihr Leben nun davon abhängt, weil es ihm (endlich) Regeln und den Dualismus von Richtig und Falsch liefert. Herzlichen Glückwunsch.

NEUE ELTERN

Es ist dieser vorwurfsvolle Blick der Mutter, ganz am Ende, nachdem sie eingepackt und  und pädagogisch wertvoll ihr Kind fünf Minuten zwischen dem roten und und grünen Lutscher hat wählen lassen, „Na welchen magst du lieber, überleg mal“, nachdem sie in aaaaaaaaaaller Ruhe das Portmoniai suchte, Kleingeld suchte, dem Kind etwas erklärte, weiter suchte und einpackte, und alle Köpfe in der Schlange, die zu ihr schauen Gleichmut vorgebend zu ignorieren scheint, was sie natürlich nicht tut. Sondern diese Situation auf eine eigenartige, kranke Weise zu genießen scheint und dann, ganz zum Schluss, am Ende der Vorführung kommt der Blick zum Publikum, zu der stillen aber gespannt harrenden Schlange, die so auch schauen würde, wenn Karl-Heinz seine drei Pullen Bier mit 10cent Münzen bezahlt, oder Susi ihr Glas Nutella mit Karte und dann dreimal den Pincode falsch eingibt.
Aber was da von der jungen Mutter kommt ist ganz am Ende ein kalter, abfälliger Blick voller Verachtung. Darin liegt die ganze verquere Logik (einiger, nicht aller, ich weiß!) junger Eltern, am Anfang des neuen Jahrtausends, darin liegt ein Blick auf die Welt, die nicht mehr die gleiche ist, seitdem die kleine Maja oder der kleine Simon geschlüpft ist. Es geht u.a. um Selbstbewusstsein, das nach Jahren der Zweifel nun so offensiv ausgelebt wird, dass es dem Publikum nicht selten den Atem verschlägt über die Mischung aus Ignoranz und Selbstsicherheit, mit der alle Idioten sind – außer Mutti.

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Was sind das für neurotische, seltsame Menschen, die jeglicher Kritik trotzen, und sich egal zu welchem Thema oder Verhalten, immer und zuerst als Mutter angegriffen fühlen. Wer sind die jungen Frauen und Männer, die plötzlich allerlei überzogene Forderungen und Erwartungen an den Staat und auch ihr Umgebung stellen? Sind das wirklich die gleichen Männer und Frauen, die zuvor jahrelang vor allem auf ihre Unabhängigkeit und forderungsfreie Entfaltung pochten, Weihnachten nervig fanden, die in der jahrelangen Selbst- und Berufssuche an sich selbst überzogene Erwartungen stellten und diese nun an andere stellen, wo sie ES gefunden haben. Wer sind diese Leute, die plötzlich alles wissen, weil sie es irgendwo gelesen haben, die daher Lehrern, Ärzten und gern auch anderen Eltern erklären, wie man es richtig macht, und was „in diesem Land / mit den Schulen / mit diesem Denken eigentlich das Problem“ ist.
Gut ausgebildete und gut angezogene, recht soziale und tolerante, weitgereiste, vielseitig interessierte Wesen werden offenbar innerhalb von neun Monaten zu fundamentalistischen Monotheisten des „deus infans“, denen es schwer fällt über sich selbst zu lachen, wenn sie Thesen verkünden, die sie ihren Eltern um die Ohren gehauen hätten. Gerade noch selbstkritische, humorvolle Charaktere, die sich umzingelt sehen von Missständen und Gefahren und dummen Menschen. Als wären sie selbst mit der Geburt ihres Kindes wiedergeboren worden, wie einst George Bush nach seinen Trinkerexzessen. Nur dass es bei den betreffenden Neu-Eltern in die entgegengesetzte Richtung läuft: Sie finden von Heute auf Morgen Zweifel an NinetoFive Arbeit und Versuche ihr zu entgehen, „unverantwortlich“, die Suche nach der richtigen Beziehung ebenso, sie halten Depression für eine schädliche Einstellung, die sie sich nicht leisten können. Plötzlich streiten oder wählen sie nicht mehr für eine bessere Welt oder Integration, sondern für Elterngeld und Steuererleichterung, dreigliedriges Schulsystem und einen guten Sicherheitsapparat. Sie sehen nicht mehr in einem Krieg ein System aus Profitgier und Gut-gegen-Böse, sondern sind viel stärker verstört von Grafittis in ihrem Hausflur, bekommen Sorgenfalten in Anbetracht des 800 Meter weiten Wegs zur zukünftigen Grundschule ihres Zöglings, der über drei (!) Ampeln führt.

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Ich muss der vielgescholtenen Generation vor uns, den heute über 60-jährigen nachträglich Respekt zollen: Sie haben Familiengründung und Kinderkriegen nicht als einen Selbstzweck empfunden, inhaltlich überhöht und auch noch moralisch gegen Nicht-Eltern verwendet. Sie haben dabei ohne jemals Geburts-, Eltern-, Erziehungsratgeber gelesen zu haben, sicher nicht mehr Fehler gemacht, als die heutigen Eltern mit ihren Kindern machen werden. Aber diese alte Generation aus Eltern und Großeltern wirkt wenigstens authentisch. Sie haben mit ihren Kindern Sachen gemacht, weil sie die bei ihren Eltern mochten, oder haben Dinge nicht gemacht, weil sie sie bei ihnen gehasst haben. Die meisten Dinge haben sie einfach gemacht oder gelassen. Sie sind weiter ein Mercedes Coupé oder ein anderes Kinderwagen-untaugliches Auto gefahren, und statt kindgerechten Urlaub haben sie einfach Urlaub gemacht, der ihnen auch was brachte, sie haben ohne vorheriges Assessment Center Babysitter engagiert und das Kind in die Schule geschickt, die dem Haus am nächsten lag. Sie haben nicht geglaubt, in der Welt von Ratgebern, Erziehungsmodellen und frühkindlichen Forschungsstudien, durch Kabbelgruppen-Info-Gespräche und PEKiP-Baby-Turnen oder die Frage chinesische oder englische Tagesmutter, die Antwort zu finden, wie ihr Kind gesund und glücklich wird. Sie haben bei Kindergarten nicht an „Früherziehung“ und bei Schule an „ Karriere“ gedacht und versucht, Dreijährige baldigst auf den globalisierten Arbeitsmarkt einzustimmen – und gleichzeitig behauptet, Spielen, sich ausprobieren und rumdaddeln sei soooo wichtig für Kinder.

Diese Generationen vor uns hatten mal mehr, mal weniger Angst, Dinge falsch zu machen,  sie haben sich ihren Kindern gegenüber mal mehr mal weniger warm und besorgt und engagiert gezeigt, aber sie entschieden letztlich auf Grundlage eigener, nicht fremder und angelesener Erfahrungen und Gefühle.
Die Generationen der heutigen Großeltern haben nicht einen Teil ihres Selbst abgespalten, als sie Eltern wurden und vieles, was für sie mal richtig und wichtig war, einfach über Bord geworfen und ihre Veränderung zum Unguten hernach ihrer Umwelt als Selbstfindung via Kind verkauft und die leise Kritik als Angriff auf ihre Elternschaft begriffen. Und es ist genau das der Grund, warum so viele der heutigen Großeltern zugleich authentisch und aus der Zeit gefallen wirken – wie Helmut Schmidt.

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Und auch wenn manche der heutigen Eltern es zu glauben scheinen: Eltern sind per se keine besseren Menschen, sind nicht genauer und umsichtiger. Blöde Leute werden dadurch, dass sie Eltern werden nicht zu netten Leuten, und dummes Gerede wird nicht dadurch richtig, dass jemand es als Vater oder Mutter sagt. Zum Beispiel, wenn man eine Mutter kritisiert die Frage „Haben Sie Kinder!?“, als messe sich daran die Urteilsfähigkeit eines Menschen, dabei scheint es meist andersherum zu sein, jedenfalls wenn man den Ausagen von Kinder über die Urteilsfähigkeit ihrer Eltern glaubt.  Die Mamis aber, denn es sind erstaunlicherweise fast immer die Mütter, die nach zehn Minuten auf den höfliche Frage, ob das brüllende Kind nicht vielleicht beruhigt werden sollte, dann patzig werden, das sind meist die gleichen Mütter, die sich von Bettlern und U-Bahn Sängern belästigt fühlen und die ersten sind, die die Polizei anrufen wenn der Student im Nachbarhaus seine Fete feiert. Sie erwarten eine Toleranz und Flexibilität von der Umwelt, die sie niemandem gegenüber, der den Schlaf ihres Kindes oder das durchgeplante Tages-System stört, zuerkennen wollen. Und das ist nicht mit Stilldemenz, sondern nur psychosozial zu erklären. Sie wollen, dass wir es ertragen. Nur warum?

Eltern gehorchen in blinder Gefolgschaft ihren Instinkten von Schutz und Verantwortung gegenüber dem kleinen hilflosen Wesen. Ein gesunder, ganz natürlicher Zug. Anstrengend nur dann, wenn es zum einzigen Wesenszug wird. Das wird aber auffällig oft gerade von solchen Müttern in einer Vehemenz und Intoleranz ausgelebt, die in ihrem Leben davor, von Zweifeln, Sinnkrisen und Ängsten gepeinigt wurden, sich nie recht zwischen Studium, Arbeit, Beziehung und „Freewheelin“ auf etwas festlegen konnten, aber dank Mutterschaft finalmente ihre natürliche Rolle gefunden haben – die EINE richtige. Sie reagieren erstaunt, ja verletzt, wenn man ihre Vorstellungen und Werte, ihre Entscheidungen nur als eine von vielen möglichen behandelt.

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So sind diese Ü-30 Eltern, die Kind und Familie als eine Art letzten Akt der Selbstverwirklichung, nicht als natürlicher Prozess oder einfach eine Sache sehen, die jeden Tag 350.000 mal geschieht und in der Menschheitsgeschichte ca. 100 Milliarden Mal geschehen ist: Mutter und Vater werden.
Die kommode Welt des Prenzlauer Bergs des 21. Jahrhunderts, quasi als Keimzelle der Bewegung, brachte einen ganz eigenen Schlag Eltern hervor. Eltern, die erst alles auf einmal sein wollten und sich langelangelange beruflich und charakterliche selbst suchten, es dann plötzlich eilig hatten, weil Phase Eins sie bis in die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts getragen hatte und hernach als Kontrast zum Suchen und Irren der ersten Lebenshälfte, in der zweiten mit Kindern plötzlich nur noch an fixe Tatsachen, eindeutige Wahrheiten und monokausale Erklärungen glauben. Ein Kind ist ein Kind ist ein Kind.
Sie gebärden sich wie New-Born-Christians oder Ex-Raucher, die auf ihr vorheriges Leben angesprochen, dieses als großen Fehler geißeln und deshalb allen, die ihre nun geltende, einzige Wahrheit noch nicht erkannt haben, mit Unverständnis, ja Wut begegnen. Diese Reaktion ist in der Logik ihrer individualistischen nach Selbstverwirklichung suchenden bisherigen Lebensführung schon angelegt gewesen, hat sich aber leider aus Sicht der Nicht-Erweckten von eher symphatischer Selbstzweifelei und vielleicht naiver Sinn- und verschlungener Jobsuche zu einer sehr verengten Ausschließlichkeit beanspruchenden Perspektive auf „das Leben“ verwandelt.

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Warum ist der trinkfreudige Nachbar erst ein Problem, seit das Kind da ist? Warum lockt auf ein Mal die Monothonie der Vorstadt – nach jahrelangen Vorträgen, die sie Freunden aus der Provinz gehalten haben über das grandiose Leben in Berlin? Warum macht ihnen ein Beitrag in der Apothekenrundschau über ADS solch Kopfzerbrechen? Warum glauben sie durch eine Dokumentation über die richtige Babynahrung Wichtiges zu lernen? Warum fühlt sich der Einzug von Familie Ali im Nachbarhaus irgendwie nicht gut an? Warum ist da so viel Bereitschaft Angst zu haben? Warum sind den frischen Müttern die hübschen Single-Freundinnen plötzlich suspekt und werden nur noch selten eingeladen – jedenfalls wenn der Mann auch da ist? Warum ist ein Hund plötzlich gefährlich, obwohl man ihn seit Jahren kennt und der noch nie auch nur gebellt hat? Wie kann es passieren, dass ein wehrloses Wesen, das eigene Kind plötzlich als Begründung für alle Faulheit und Bequemlichkeit im Denken und Handeln herhalten muss, für alle nicht getanen Dinge und plötzlich als „wahr“ erkannten Regeln? Wie soll daraus die berühmte „gesunde Keimzelle der Gesellschaft“ werden: die Familie?
Nein – die Illusion etwas Festes geschaffen zu haben, hat sich nur verlagert, das Gefühl es „zu etwas gebracht“ zu haben, wird an die nächste Generation weitergegeben, und wenn unsere Eltern noch mit den Söhnen und Töchtern geprahlt haben, die Anwalt oder Arzt wurden, so prahlen die New Born Eltern mit dem Nachwuchs an sich, nur weil er da ist und sie das wirklich gemacht haben. Deswegen schreiben auch so viele Väter jetzt Bücher da drüber, weil sie es der Welt verkünden müssen: ich bin ein moderner Vater, ich bin anders als mein Vater und ich bin mir total bewusst darüber. Na, dann ist ja gut.

Aber lasst Singles und kinderlose Paare doch sonntags mal in Ruhe im Cafe Kaffeetrinken und Zeitunglesen, wir haben ja sonst nix und nix erreicht und nix zu tun und nix Zukunft – das werdet ihr verstehen, oder?