Irgendwann wird einem klar,
dass alles ein Traum ist
und nur geschriebene Dinge
die Möglichkeit haben, wirklich zu sein
[Alles was ist; James Salter]

Das Epitaph aus Salters letztem Buch kondensiert auf vier Zeilen den Wunsch zu schreiben und erklärt zugleich, wie das Leben ist, aus dem Autoren schöpfen – nämlich auch nur eine Vorstellung ein verworrenes Geschehen, in dem man manchmal agiert und manchmal zusieht. Aber wenn man es schreibt, wird es wirklich, echt, ist passiert. Und deshalb müssen manche Menschen Bücher schreiben – und weil sie berühmt sein wollen und beliebt – wie Salter unumwunden zugibt.

An meiner Wand hängt ein Zettel mit einer Szene aus einem Wim Wenders Film. Darauf schreibt eine Figur aus „Stand der Dinge“ die Worte: „Stories only exist in stories (whereas life goes by without the need to turn into story)“. Das ist Salters Gedanke mit anderem Schwerpunkt: darin der Wunsch, dem Leben, diesem riesigen „Müllhaufen der eigenen Erinnerungen“, wie Salter es nennt, Geschichten abzuringen. Und genau das hat Salter getan.

Man kann bei vielen Schriftstellern zumindest ahnen, wie sie arbeiten. Es gibt die unglaublich belesenen und die intuitiven Schreiber, immer in Bewegung, hibbelig wie ihre Texte. Oder eben ruhig und fließend, gut abgehangen, präzise und knapp. Es gibt solche, die einen Moment oder Ort umkreisend oder eine atemlose Verkettung von Ereignissen schildern – und man darf davon ausgehen, dass das bei vielen auch ihr eigenes Leben, ihren Alltag beschreibt. Man kann sogar anhand von Sprache oder Genre oder Stil, bzw. Stimme ahnen, welche Autoren sie lieben und je nach den Inhalten ihrer Bücher bekommt man auch eine Ahnung, wie sie das Leben sehen und was sie selbst darin erlebt haben.

Bei James Salter, ist mir das immer sehr schwer gefallen. Wann, wo und wie schreibt der? Liest er viel? Wo findet er seine Themen? Die vergleichsweise kleine Anzahl von Bücher in 50 Jahren lässt darauf schließen, dass er sehr lange an einem Buch arbeitet und feilt und überarbeitet und verwirft oder sehr lange auf eine zündende Idee wartet. Ganz anders als beispielsweise Stephen King oder Balzac. Zwei Autoren, die Salter in seinen drei Vorlesungen zur „Kunst der Literatur“, „Wie man einen Roman schreibt“ und „Kunst als Leben“ seiner Kapnick Writers in Residence Lecture erwähnt. In diesen drei Vorlesungen, zu finden in dem Buch „Charisma: Sämtliche Stories & drei literarische Essays“,  werden ein paar der Fragen beantwortet. Wiewohl seine Geschichten natürlich auch ohne jedes Wissen über den Autor vollkommen für sich allein funktionieren.

Salter ist auf eine herrliche Art zeitlos und unheimlich amerikanisch. Er hat seine berühmtesten Romane in einer Zeit geschrieben, die heute in Serien bei Netflix historisiert wird und sehr weit weg erscheint – die 50er und 60er Jahre. Aber als er vor drei Jahren starb, wurde er trotzdem wie ein Gegenwartsautor behandelt. Er wurde erst in den späten 90ern in Deutschland wiederentdeckt. Und war sofort ein Monolith in der an großen Autoren und Autorinnen ja nicht armen US-Literatur. Auch ich bin ihm damals verfallen und er übernahm nach meiner Paul Auster Phase ihn als schreibendes Ideal – neben W.G. Sebald und Kerouac. Ein Dreigestirn, an denen ich sehr ähnliche Dinge liebte, aber von denen ich jeweils ganz unterschiedliche Dinge lernen wollte.

Salters Romane und die zahlreichen Kurzgeschichten ermöglichen eine zeitliche Einordnung, sie erzählen dennoch nicht gezielt von den 50ern bis 70ern um ihrer selbst willen, sondern von Menschen und Momenten, die auch 30 Jahre vorher oder später Geschichten hätten werden können.
Diese Menschen scheinen oft eigensinnig und von den gesellschaftlichen Konventionen oder einem Zeitgeist höchstens milde beeinflusst. Sie blicken auf ihre Ehen und Beziehungen und ihr Scheitern, den Schmerz des Verlusts (Lichtjahre). Sie leben ihr Leben, meist in leidlichem Wohlstand, irgendwo rund um New York. Sie sind selbstbezogen und charakterstark – und ebenso oft am Ende allein. Aber sie fliegen auch Kampfjets (Jäger) oder wollen die Eiger Nordwand durchklettern (In der Wand).

Mit fast 90 Jahren, 2013 und nach 33 Jahren Pause, hat Salter dann noch einen Roman veröffentlicht: „Alles was ist“. Einen großartiges Buch. Das jedem Autor Hoffnung machen dürfte, dass gute Bücher nicht nur zwischen 20 und 40 zu schreiben sind.
Das „ist“ im Titel erscheint ein Ausrufezeichen, wie eine Quintessenz des Salterschen Erzählen und seiner Schreibmethode: Eben nicht: Alles, was war. Nicht Nostalgie und ein Alter Mann schaut zurück. Das „ist“ steht in Bezug zu dem Epitaph am Anfang: Was Salter erzählt und wir lesen, das ist jetzt. Das ist die Wirklichkeit. Wir machen beim Lesen daraus Gegenwart und teilen unsere Welt mit der des Autors, seinen Geschichten.

Obwohl das Buch in den prägenden Jahren des Autors angesiedelt ist: Ein Kriegsheimkehrer steigt auf in New York, die Türen zu Karrieren stehen den Klugen offenbar weit offen. Doch dann folgen scheiternden Lieben und Familien und die Suche nach Nähe – trotz all dem.
Dieser zugleich bewegende, dabei unsentimentale Blick auf Männer und Frauen, drastische Sexszenen und lyrische Momente, das ist die Salter Stimme. Er versehrt die großen Realisten der Literatur von Babel über Balzac bis Bellow, Männer die mit wenigen Worten Menschen und Orte charakterisieren konnten. Das ist auch Salters Gabe.

Gute Literatur ist zeitlos. Eine Binse, ja klar. Literatur erfasst etwas vom Leben, das der Wirklichkeit oder vielmehr – der diffusen, nicht greifbaren Wahrheit in der Wirklichkeit – nahe kommt. Sie weckt Sehnsucht und macht den Leser aufmerksam. Aber sie besteht auch aus diesem simplen Schema, das Salter in seinen Vorlesungen nennt: „Was kommt als nächstes. Das Verlangen, dies zu erfahren, ist der Motor von Literatur.“

Aber was diese drei Vorlesungen, zu finden am Ende in einem Buch mit allen veröffentlichten Erzählungen Salters, was die drei Texte nicht liefern, ist ein How-To oder Hinweise auf Grammatik, Satzstrukturen, Arbeitsabläufe, die besten Schreibzeiten oder die üblichen Schreibratgeber To Do Listen. Hier erzählt ein Mann, was ihm Bücher und Sprache bedeuten.

Wie kam er zum Schreiben? Über Jack Kerouacs ersten Roman, The Town and the City, ein von Thomas Wolfe beeinflusstes Buch, bevor Kerouac seine eigene Stimme in On the Road finden sollte. Salter kannte Kerouac aus de Schule. Dass er ein Buch von ihm eines Tages in einer Buchhandlung entdeckte, warf für den Mann in Uniform die Frage auf: warum schreibt der ein Buch und ich nicht? Und so quittierte er den Dienst, um Schriftsteller zu werden.
Weitere Fragen: Wie kommen Sprache und Geschichte zueinander, was ist der Unterschied zwischen Stil und Stimme, was ist der Unterscheid zwischen „naiven“ Autoren und „Sentimentalen“ Autoren, die einen sprudelnde Quellen aus Können, Shakespeare, Dante, Goethe, und die anderen ringen mit Sprache, Stil, Form und Technik – also 99% der Autoren.

In welcher Weise haben Orte Einfluss auf Bücher und wie die Bücher auf die Orte. Das Paris von Balzac, Das New Jersey von Philip Roth, Indochina von Duras… Was kann man überhaupt von den Großen und ihren Romanen lernen?
Und zuletzt auch: Was ist der Preis, wenn man sein Leben der Literatur widmet? Etwas, das im vermeintlichen Glamour des Künstlerlebens gern vergessen wird. Denn man zahlt einen Preis: „Man muss schreiben anstatt zu leben. Man muss eine Menge investieren um etwas zurückzubekommen. Man bekommt nicht viel zurück.“, so Salter.

Wie schaut einer, der immer ein wenig am Rand der literarischen Öffentlichkeit stand, mit seinen Büchern also zurück auf sein Leben? Auf die Literaturwelt? Die erstaunliche Erkenntnis: Dieser Mann brennt noch mit Ende 80 für das Lesen und Schreiben. Er wollte noch allerlei dicke Bücher, abseitige japanische und europäische Autoren des frühen 20. Jahrhunderts lesen, erzählt er. Und er hält die Literatur – nicht den Film, für den er auch gearbeitet hat – für die Kunst, die zählt. Die bleibt. Die Tiefe schafft, unser Leben verändert und den Charakter formt. Und so wundert es nicht, dass Salter Menschen, die nicht lesen, für suspekt hielt. Als fehle ihnen etwas Essenzielles. Und was auch immer das ist, es stimmt.

Und wenn man die Essays gelesen hat, kann man all die Theorie in den großartigen Short Stories weiter vorn im Buch in Anwendung finden. So geht Schriftstellerhandbuch.

TITELFOTO: James Salter Notebook: Courtesy of the Harry Ransom Center