(Zu dieser Reihe in meinem 49. Lebensjahr siehe hier)
Ich hatte 1985 mein Kinderzimmer mit Windsurfpostern tapeziert. Sie sollten mich weniger ans Surfen, so glaube ich heute, als an meinen ersten Surflehrer Robert erinnern – und mahnen, was man mit seinem Leben so machen kann. Mit 15 ist man empfänglich für „ganz anders als die Eltern“.
Wie das alles zusammenhängt, all die Verkleidungen und Rollenspiele der Pubertät (Klamotten, Musikwahl, falsche Freunde, kein Bock auf Schule oder Zielstrebigkeit, cool oder dagegen usw.) zeigt sich als Muster im Rückblick. Was die diversen Richtungen, Umwege, Abbrüche und Neuanfänge, aber auch die scheinbar nebensächlichen Dinge wie Fotos, Bücher, Filme aus der Jugendzeit verbindet, ist eine bestimmte Art die Welt zu sehen und darin seinen Platz zu suchen.

Robert arbeitete ein halbes Jahr als Surflehrer auf Korfu und betrieb im Winter eine Kneipe im Schwarzwald. Das war sehr weit weg von den mir bekannten Lebensentwürfen. Er war männlich – im besten Sinn auch des 21. Jahrhunderts. Er war tiefenentspannt, locker und immer interessiert und aufmerksam. Er kannte viele Leute, er war viel unterwegs und hatte doch seine Homebase in dieser Holzhütte im Schwarzwald. Und er war, da auf dem Brett, wenn er über die Wellen flog, ganz bei sich.

So hängte ich mir nach dem Urlaub ohne genau zu wissen, was ich damit meinte, Robby Naish Poster an die Wände, trug Surf-T-Shirts – bin aber höchstens noch ein duzend mal wirklich Windsurfen gegangen. Ich mag Wassersport gar nicht besonders. Es ging um etwas anderes. Er wurde mein erstes Rolemodel.

Fotos sind meine Form der „Carpe Diem!“ Ermahnung und Richtungsanzeiger. Erst Windsurfbilder für frei, draußen, mutig, like Robert. Es folgten Schwarz-Weiß Aufnahmen von Jazz Musikern für cool, improvisiert und gekonnt und den Reiz des Unbekannten, der in dieser Musik steckt, der Mut, jedesmal wieder nicht zu wissen, wo es einen hinführt. Aber auch Jazz Musiker bin ich dann nicht geworden.

Von den Jazzbildern führte der nächste Schritt Richtung Fotografie als Kunst, also eine fast unendlche Vielfalt an Themen und Perspektiven jenseits von Surfen und Jazz.
Schließlich wollte ich auch selbst und kaufte ich mir eine Nikon F3, entwickelte in der Dunkelkammer mit einem Freund Bilder und sammelte 30 Jahre aberhunderte Schwarz-Weiß Kontaktabzüge und mehrere zehntausend Bilder auf der Festplatte.
Material für eventuelle Cybermobbing Kampagnen ist auch dabei – aber vor allem viele hundert mal die Erkenntnis, dass uns so viele Menschen und Momente abhanden kommen im Lauf des Lebens.

Für mich ging es beim Fotografieren, seit ich mit sieben oder acht mit meiner Ritschratsch Kleinbildkamera die selbstgebauten Playmobil Szenerien fotografierte, ums Festhalten. Nur das. Ein Moment der Freude, der Nähe, des „Bei-sich-sein“. Es ist alles da, jetzt, hier. Und es fliegt davon. Was kann man schon machen, außer es aufzuschreiben und versuchen, Bilder davon zu schießen?

Und auch wenn viele Aufnahmen heute nur noch mir etwas sagen, also Schnappschüsse sind, die meine Kinder irgendwann wegwerfen werden, weil sie nicht mal wissen wo oder wer das war, so können hoffentlich in manchen der Fotos auch andere etwas entdecken. Vielleicht könnten meine Kinder sogar mich entdecken. Vergleichbar damit, wenn eine biografisch inspirierte Geschichte jemand anderen bewegt und so zu Literatur wird, aber doch auch immer auf den Autor verweist.

In den besten Fotografien findet sich auf geheimnisvolle Weise alles Davor und Danach, sie weisen über Zeitpunkt und Ausschnitt des Fotos und damit die Absicht des Fotografen hinaus. Sie stehen für sich, dokumentieren zugleich, wie das Leben sich anfühlte, in dem Augenblick. In meinen Fotos sieht man auch, wie ich das Leben gern sehen würde oder wie es sich am besten immer anfühlen sollte.

So kann eine Fotografie trotz der extremen Reduzierung auf den Bruchteil einer Sekunde, wenn der Kameraverschluss sich wie ein Vorhang vor der Welt öffnet, ein ganzes Leben erzählen. Oder auch nur eine Geschichte im Kopf des Betrachters. Ein Foto kann vom Leben an sich erzählen, von Liebe, Verlust, Freude und Freiheit, von Unendlichkeit genauso wie von einer bestimmten Sekunde in dem Leben eines bestimmten, vielleicht längst vergessenen Menschen.

Wir fotografieren nur, was sie sehen können. Und bevor man den Auslöser drückt, löste der Moment im Fotografen etwas aus.

Die folgenden 6 plus Superzahl Fotografen und eine Fotografin begleiten mich schon lang. Es sind vier Amerikaner, ein Italiener und zwei Deutsche. Sie – stellvertretend für viele andere – vermitteln mir, worauf es ankommt, beim Fotografieren. Und im Leben: Los, geh raus, mach einfach! Alles ist schon da und nichts wird bleiben.

Zahl EINS
August Sander, Der Maler A.R., ca. 1927 (copyright August Sander Archiv)

Obwohl mir Fotos von Städten, Straßen und Landschaften meist mehr liegen, sind die Portraits von August Sander in ihrer Nüchternheit und Kraft grandios. Seine Fotos von Menschen in bestimten Berufen erzählen über eine Gegenwart und ein Selbstverständnis, das sich in heutigen Berufen kaum noch so sehr in Physis, Gesicht und Ausstrahlung widerspiegelt.

Zahl ZWEI
Jeff Wall: Ellison, Invisible Man, the Preface 2002 (courtesy Galerie Johnen&Schötte)

Ellisons Buch von 1952 ist auch 70 Jahre danach noch zeitgemäß. Black Lives Matter und die damit verbundenen gesellschaftlichen Themen, das Leben als Schwarzer Mensch in Amerika – alles leider immer noch bitter. Mich sprach Jeff Walls moderne Interpretation des Romans, riesig groß, 1,70×2,50 Meter auf einen Leuchtkasten montiert, aus einem ganz anderen Grund an: Die inszenierte Isolation und Konzentration: Ein Mann schreibt ein Buch – und die Welt draußen macht, was sie will.

Zahl DREI
Robert Frank, Nova Scotia, aus The Lines of my hand

Robert Frank ist nicht nur wegen seiner Filme mit und seiner Beziehung zu den Beats, Kerouac, Ginsberg usw. schon lang mein Held. Dieses Buch von 1972 zeigt Frank als Künstler, der keine Angst kennt, der unaufhaltsam seit 60 Jahren seine Motive sucht – und manchmal findet. Einer, der sich auf die alten Zeiten nichts einbildet und um die Flüchtigkeit weiß. Wie das Bild, das er gerade macht, ist er nur jetzt und hier. Er mischte später sein Leben mit dem, was er sah und Text mit Fotografien und öffnete so weitere Bedeutungsebenen. Der fantastische Dokumentarfilm Don’t blink sei jedem empfohlen.

Zahl VIER
Thomas Demand: Badezimmer, 1997 (Galerie Esther Schipper)

Das Badezimmer ist vermutlich die in Deutschland bekannteste Fotografie von Demand. Demand baut Pressofotografien oder eigene Erinnerungen, unbekannte und berüchtigte Orte in Papier nach und fotografiert sie dann. Clean, menschenleer, detailgenau aber völlig ohne Leben und dadurch aufgeladen von Unbewussten und Erinnerungen.
Ob der Eingangsbereich einer Kneipe, wo ein Kind ermordet wurde, ein Großraumbüro, das Oval Office oder Alltagsmomente – alles wirkt zugleich echt wie unecht. Hyperreal. Aber gerade die Perfektion, mit der die Wirklichkeit hier eine neue Wirklichkeit wird, ist faszinierend.

Zahl FÜNF
Vivian Maier, undated und September 26, 1954. New York, NY

Es klingt wie ein Märchen. Eine Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens als Kindermädchen arbeitete und dabei täglich fotografierte, hat ein grandioses Talent  – aber lebt Jahrzehnte ohne jede öffentliche Anerkennung. Von den 50ern bis in die 90er Jahre schießt Maier etwa 100.000 Fotos. Als sie im Alter verarmt, werden wegen Mietschulden auch ihre Kisten mit den Negativen versteiget. 2007 geraten einem jungen Immobilienmakler in die Hände. Es entsteht ein Dokumentarfilm. Ihre Bilder stehen heute auf einer Stufe mit den besten Streetfotografen des 20. Jahrhunderts. Sie mischen Schlichtheit und Beiläufigkeit mit Kraft und Tiefe. Die ganze Story so unglaublich und very american wie die Bilder unglaublich gut und very american.
(Details unter Vivian Maier).

Die Zahl: SECHS
Stephen Shore, Grand Street at Mercer Street, New York, New York, February 24, 1974

Auch das scheint verrückt: Die Farbfotografie wurde als Kunstform erst ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ernst genommen. Wer Fotokunst machen wollte, schoß in Schwarz-Weiß. Man ist erinnert an die Debatten bei der Erfindung des Tonfilms. William Eggleston und andere brachten die Farbe – und dabei ein Bild der USA, das sich von Automodellen, über Straßenkreuzungen, Landschaften, Verfall und Glamour, bis hin zu Frisuren und Leuchtreklamen in mir festsetze, Sehnsucht auslöst.

DIE SUPERZAHL
1. Campagna marchigiana – courtesy Archivio Mario Giacomelli, Senigallia // 2.Il non ho mani che mi accarezzino il volto, c.1961

Bei Giacomelli kommen mehrere Dinge für mich zusammen: Surrealismus, Schwarz-Weiß und Italien, Menschen und Landschaft, Malerei und Kontraste. Die Aufnahmen wirken oft wie Fotounfälle. Unscharf, verwischt, seltsam über- oder unterbelichtet. Seine Landschaftsaufnahmen könnten (teilweise aus der Luft, als es noch keine Drohnen gab) wie abstrakte Kunst sein, Schraffuren auf weißem Untergrund, Man Ray Fotogramme. Die Bilder haben in den starken Hell-Dunkel Kontrasten einen außer-weltlichen Charakter. Als wäre nicht nur die Zeit als junge Priester lachend tanzten und Witwen alle Schwarz trugen und der Stolz der Armut in Italien lang vorbei, sondern als habe diese Welt schon immer in einem zugleich schönen wie schrecklichen Paralleluniversum existiert.